Dissens – eine unvollständige Entwicklungsgeschichte

Die Anfänge: Männergruppe – Männerkollektiv – Vereinsgründung

1985 gründeten sechs Studenten der Sozialpädagogik an der Technischen Universität Berlin eine Männergruppe und begannen, ihre Erkenntnisse und Diskussionen über patriarchale Geschlechterverhältnisse sowie ihre eigene Selbstreflexion in Tutorien und außerschulischer Bildungsarbeit umzusetzen. 1990 wurde aus der Männergruppe ein Männerkollektiv und der Verein Dissens e.V. wurde ins Leben gerufen. Mit „Der DISSENS mit der HERRschenden Männlichkeit“ gab sich das Kollektiv ein Konzept. Die Grundidee war, ein Engagement von Männern gegen patriarchale Geschlechterverhältnisse in Pädagogik und Forschung zu entwickeln, und sich selbst, im und als Kollektiv, zu verändern.

Dabei wurde in Kooperationen mit feministischen Kolleginnen* und Gruppen, die Dissens solidarisch-kritisch verbundenen waren, nach Wegen zum Abbau von Geschlechterhierarchien und Gewalt(verhältnissen) aus der Perspektive von Männern und Jungen gesucht. Nicht nur Selbstreflexion und -veränderung in Bezug auf Partnerschaften und Sexualität, Gewalthandeln und männliche Identität standen dabei im Fokus der Auseinandersetzungen, wie es für viele andere Männergruppen der Zeit charakteristisch war. Dissens bearbeitete auch die Einbettung von Geschlechterverhältnissen in kapitalistische Produktions-, Verwertungs- und Ausbeutungsverhältnisse und war damit im deutschsprachigen Raum eine der ersten Gruppen, die Erwerbsarbeit und Gleichstellungsfragen von Männerseite aus bearbeitete.

Zentrales Motiv der Arbeit war, aus privilegierter Positionierung heraus die vorherrschende Geschlechterordnung und insbesondere die herrschende Männlichkeit zu kritisieren: „Das große Ziel für uns ist und bleibt, an der Abschaffung des Patriarchats mitzuwirken“ (Dissens 1990, S. 37). „Wir wollen durch unsere Arbeit erreichen, daß Männer die gewalttätigen Strukturen in all ihren Lebensbereichen sowie ihre Teilhabe daran wahrnehmen und verändern“ (ebd., S. 41). Ein erster Schritt dafür war und ist es bis heute, Dominanzverhältnisse und Diskriminierungen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen überhaupt ernsthaft wahrzunehmen und zum eigenen Thema zu machen. Neben Macht- und Statusgewinnen können mit der Dominanzposition auch persönliche Verluste einhergehen. So wurden z.B. emotional unbefriedigende Beziehungen vor allem unter heterosexuellen Männern, aber auch gegenüber Frauen und homosexuellen Männern als ein persönlich bedeutender Verlust benannt. Indem Dissens den Preis sichtbar machte, der auch für Männer mit den Mechanismen männlicher Privilegierung einhergeht, wurden Motive für (heterosexuelle) Männer freigelegt, sich auch über Solidarität mit Frauen und Mädchen, Lesben, Schwulen und anderen Queers hinaus für eine Kritik an patriarchalen Verhältnissen einzusetzen.

Institutionalisierung: Jugendarbeit, Fortbildung und Forschung

In den folgenden Jahren etablierte sich Dissens zunehmend als lokaler Träger der Jugendhilfe sowie als Träger von Forschungs- und Fortbildungsprojekten, vor allem auf europäischer und Bundesebene.

In West-Berlin gestartet, folgte Dissens 1995 dem Interesse des Ostberliner Stadtteils Marzahn, der einen bezirklichen Träger der Kinder- und Jugendhilfe mit einem Schwerpunkt auf der geschlechterreflektierten Arbeit mit Jungen etablieren wollte, und zog nach Marzahn um. Hier konnte für einige Jahre ein Jungenzentrum mit Angeboten der offenen Jugendarbeit und Bildungsangeboten für Schulklassen etabliert werden. Im Bereich der Hilfen zur Erziehung entwickelte Dissens Konzepte für die Soziale Gruppenarbeit und Einzelfallhilfe mit und für Jungen und betrieb für mehrere Jahre eine Jungen-WG im Betreuten Wohnen. Dissens engagierte sich im späteren Bezirk Marzahn-Hellersdorf auch durch die Mitarbeit in Vernetzungsrunden und die Durchführung lokal angebundener Projekte wie dem Gemeinwesenprojekt Unser Platz.

Die Fortbildungstätigkeit von Dissens entwickelte sich anfangs aus Fortbildungsanfragen rund um Jungenarbeit. In den 2000er Jahren waren Dissens-Mitarbeiter_innen zunehmend auch als Gendertrainer_innen tätig und entwickelten u.a. in europäischen Projekten Standards für die Trainer_innenausbildung (u.a. GemTrEx).

Parallel dazu entwickelte Dissens Forschungsprojekte, die sich zunächst Fragestellungen in den Bereichen Arbeit, Gleichstellung und Gewalt widmeten. Dem ersten großen EU-Projekt Work Changes Gender (2001-2005) folgte z.B. die Pilotstudie zu Gewalt gegen Männer im Auftrag des BMFSFJ, die erstmals umfassend die Gewalt aufzeigte, die Männern – meist von Männern – widerfährt. Mit Hilfe von Forschungsprojekten wurde analysiert, welche Faktoren die Täterwerdung fördern und ob und wie Arbeit mit Tätern häuslicher Gewalt zu einem Ende von Gewaltverhältnissen beitragen kann.

Ab Mitte der 2000er Jahre wurden zunehmend EU-Projekte mit Fokus auf konzeptioneller und fortbildnerischer Weiterentwicklung pädagogischer Praxen und Materialentwicklung durchgeführt (u.a. Dialogue between the Genders, Gender Loops und Peer Think), die dann 2009 in das erste bundesweite Fortbildungsprojekt (Geschlechterreflektierte Arbeit mit Jungen an der Schule) mündeten. Im Folgenden wurden zunehmend in Projekten Forschungs- und Fortbildungsanteile kombiniert und die entwickelten Erkenntnisse und Materialien durch Veröffentlichungen verbreitet. Dissens unterstützt(e) dabei mit Angeboten zu geschlechterreflektierter Pädagogik und intersektionalen Erweiterungen Akteur_innen der vorschulischen Bildung, Schule, Jugendarbeit und weiterer Bereiche vorwiegend koedukativer Settings, beschäftigt(e) sich aber auch weiterhin mit dem Feld der Jungenarbeit (z.B. Wissenschaftliche Begleitung von Neue Wege für Jungs). So konnten wir nachhaltige Impulse setzen, die bis heute an verschiedenen Orten durch inhaltliche Fortführung, Kooperationen und personelle Kontinuitäten fortwirken.

Ausdifferenzierung in zwei Vereine

Im Laufe der Zeit differenzierten sich unter anderem aufgrund unterschiedlicher Organisations- und Finanzierungslogiken zwei Bereiche heraus. Dies führte schließlich 2013 zur organisatorischen Trennung in zwei Vereine:

Die lokale Jugendarbeit wurde in den neuen Verein Dissens – Pädagogik und Kunst im Kontext ausgegliedert.

Der hier vorgestellte Verein  Dissens – Institut für Bildung und Forschung  arbeitet weiter an der Verknüpfung zwischen einerseits Forschung und Theorieentwicklung und andererseits der Praxisentwicklung mittels Fortbildungsarbeit, der (Weiter-)Entwicklung von Konzepten und pädagogischen Materialien, Beratung sowie politischer Bildung und Antidiskriminierungsarbeit mit Jugendlichen und Erwachsenen.

Heute: Dissens – Institut für Bildung und Forschung

Als Männerkollektiv begonnen, hat sich Dissens im Laufe der Zeit schrittweise in eine Organisation verwandelt, in der Personen verschiedener Geschlechter zusammenarbeiten.

Analog zur Teamentwicklung hat sich auch der inhaltliche Fokus in Richtung einer stärkeren Berücksichtigung von Verhältnissen zwischen Menschen aller Geschlechter sowie geschlechtlicher und sexueller Vielfalt entwickelt. So wurde die kritische Männerforschung zunächst in Richtung kritischer Männlichkeitsforschung weiterentwickelt und zunehmend um Geschlechterforschung aus herrschaftskritischer, feministischer und queerer Perspektive ergänzt, die über Männlichkeit hinausweist. Jungen*arbeit ist weiterhin ein wichtiger Schwerpunkt, wurde aber um geschlechterreflektierte Pädagogik mit Adressat_innen aller Geschlechter unter Berücksichtigung von Ansätzen aus Mädchen*arbeit, reflexiver Koedukation und queerer Bildung erweitert. Das Thema Antidiskriminierung wie auch die Berücksichtigung weiterer Ungleichheitsverhältnisse über Geschlecht hinaus wurde unter anderem im Rahmen der Projekte zu Intersektionalität sowie zu geschlechterreflektierter Neonazismus-Prävention zunehmend gestärkt. Ein Überblick unserer aktuellen Themen findet sich hier.

Heute ist bei Dissens – Institut für Bildung und Forschung vieles anders, als es am Anfang war. Bis heute ist die Beschäftigung mit Jungen*, Männern* und gesellschaftlichen Männlichkeitsanforderungen unter Berücksichtigung von Privilegierungsmechanismen und persönlichen Verlusten ein wichtiger Bezugspunkt. Ebenso bleibt es ein wichtiger Ansatz für uns, aus gesellschaftlichen Dominanzpositionen heraus Verantwortung für den Abbau von Gewalt-, Hierarchie- und Diskriminierungsverhältnissen zu übernehmen. Entsprechend der Diversifizierung des Teams und unserer Themen sind aber zunehmend Herangehensweisen aus diskriminierter Perspektive sowie Empowerment-Ansätze hinzugekommen. Die Beschäftigung mit Intersektionalität führte zudem einerseits zu einer thematischen Erweiterung über Geschlechterverhältnisse hinaus und andererseits zu einer zunehmenden Berücksichtigung von Mehrfachzugehörigkeiten und des komplexen Geflechts der je individuellen Diskriminierungs- und Privilegierungserfahrungen. So geht es zunehmend darum, nicht-diskriminierende Handlungsstrategien in komplexen gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen aus den jeweils verschiedenen Positionierungen (weiter) zu entwickeln und anderen zugänglich zu machen.

In den vergangenen 30 Jahren hat es zahlreiche (bewegungs-)politische Auseinandersetzungen um Geschlechterfragen sowie weitreichende theoretische und konzeptionelle Weiterentwicklungen gegeben. Dazu gehört unter anderem, Männlichkeiten im Plural zu denken, Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität als Norm und privilegierte Lebensform infrage zu stellen sowie Mehrfachzugehörigkeiten und Überschneidungen von Machtverhältnissen anzuerkennen. Diese Entwicklungen haben sich auch im Selbstverständnis von Dissens – Institut für Bildung und Forschung niedergeschlagen, sodass „Der DISSENS mit der HERRschenden Männlichkeit“ inzwischen nur noch einer von mehreren Ansatzpunkten unserer Arbeit ist. Dennoch bleibt er angesichts der zentralen Bedeutung, die Männlichkeitsnormen und –anforderungen bei aktuellen gesellschaftlichen Problemen zukommt, weiterhin ein wichtiger Baustein bei der Verwirklichung emanzipatorischer, pluraler und gleichberechtigter Geschlechter- und Sexualitätsverhältnisse.

Dissens e.V. (1990): Der Dissens mit der HERRschenden Männlichkeit – Konzept für eine aktive Patriarchatskritik von Männern. Berlin: Eigendruck.

Das Gender-Sternchen (*) dient als Verweis auf den Konstruktionscharakter von "Geschlecht". Wenn das Sternchen hinter einer Personenbezeichnung (z.B. Jungen*) steht verdeutlicht es, dass hier explizit alle Menschen gemeint sind, die sich mit dieser Bezeichnung identifizieren, durch sie definiert werden und/oder sich sichtbar gemacht sehen. Dadurch wird ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass sich unter der Bezeichnung verschiedene, vielfältige Positionierungen sammeln können. Gleichzeitig dient das Sternchen als Platzhalter um Raum für verschiedene geschlechtliche (und sexuelle) Verortungen zu lassen.